Ausstellungen

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie sehr herzlich zu dem heutigen Abend! Mein Name ist Michael Becker, ich leite die Wiesbadener Freie Kunstschule und ich habe die Ehre, einige Worte über diese Ausstellung, die Künstlerinnen und ihre Exponate verlieren zu dürfen.

Klangstrukturen!
Offensichtlich hat das Motto der Ausstellung Sie alle nicht abgeschreckt zu kommen. Und wenn Sie sogar trotz des Titels gekommen sind, um einfach einen schönen Abend und ein schönes Ambiente zu genießen, dann sind Sie ohne es zu wollen schon sehr nahe an dem, was der Titel auch ausdrücken möchte: Schönheit, Gelungenheit, Struktur. Wie ein gelungener Abend kann auch ein Bild gelungen sein. Wenn alles stimmt, dann ist es gelungen und klangvoll, etwas Besonderes hat sich realisiert. Wir haben dann eine klangvolle Ordnung, also Musik im allgemeinsten Sinne von stimmiger, zugleich unerwarteter, lebendiger Bewegung.

Glücklicherweise ist uns Menschen das Gefühl für Klang und Gelungenheit eingeschrieben. Unglücklicherweise jedoch kann unser Zugriff auf dieses Gefühl im Laufe unserer Entwicklung gehemmt oder versperrt werden. Gerade in den letzten zwei Jahren ist dies überdeutlich geworden. Wenn kleine Kinder Gesichter mittlerweile ohne Nase und Mund zeichnen, sollte dies durchaus zu denken geben.

Kunst kann den Zugang zur Beurteilung von Authentizität und Gelungenheit reaktivieren, weil sie uns wieder mit den Wurzeln des Lebens verbindet. Sie setzt nämlich bei der Ästhetik an, die uns unmittelbar zu berühren vermag, uns wieder auf den Boden des lebendigen Lebens stellt.

Alle Vorhaben, die sich gegen das Leben stellen, es in seiner Strukturgesetzlichkeit nicht würdigen, sind meist zum Scheitern verurteilt. Auch in der Kunst existieren Gesetzmäßigkeiten, die in unserem Leben, in den Lebensgesetzen verankert sind. Man kann sie intuitiv erfassen und versiert anwenden, oder man kann sie wieder erlernen in der Hoffnung, sie so anzuwenden, dass sie Authentizität, Gelungenheit, Klang zum Ausdruck bringen. Allerdings können sie nur unter der Voraussetzung eines lebendigen Geistes ihrerseits Lebendigkeit entfalten. Wenn eine Gesellschaft aus dem Takt gerät, ihre Verbindung zur natürlichen Schöpfungskraft immer mehr verliert, Vielfalt und geistige Freiheit immer mehr einengt, muss die Kunst die richtigen Töne treffen können, muss sie auf der Klaviatur der Tonalitäten diejenigen künstlerischen Strukturen herauslösen, die in der Lage sind, eine heilende, konstruktive Wirkung zu entfalten.

Alle 7 Künstlerinnen tragen zu dieser heilenden, konstruktiven Wirkung bei.

Gesilla Tietze spannt ihren künstlerischen Raum zwischen Mikro- und Makrokosmos. Sie stimmt den Betrachter auf die Bewegungsgesetze ein, die ihm offenbaren, dass Leben das Gegenteil von Stillstand, von verknöcherten Regelsystemen, von einem verkümmerten Verstandesdenken darstellt, das seine vermeintliche Sicherheit im Schubladendenken finden möchte, das die lebendige Welt in handhabbare Segmente einzuteilen trachtet. Gesilla Tietze zeigt am Beispiel der Mechanismen der Traumbildung die Kraft unserer inneren Natur, sich gegen die rationalen Mechanismen der Naturbeherrschung immer wieder durchzusetzen. Das Resultat sind lebendige Rhythmen des Unlogischen, aber Wahrhaftigen.

Agnès Bucaille-Euler sucht in ihrem Werk nach der ‘Essenz ihres Selbst’ und gerät dadurch in den anregungsreichen Strudel von Unendlichkeit und künstlerischer Weisheit.

Auch in ihren Bildern erleben wir die Grundkategorien des Lebens in ihrer intellektuellen Ungreifbarkeit in ästhetische Chiffren des Übergänglichen, Fluiden, Schwebenden übersetzt. Gerade der Versuch, dem Vergänglichen, Ephemeren eine künstlerische Form zu geben, ist vergleichbar mit dem Anspruch, unversöhnliche Widersprüche zu versöhnen, ihre Unvereinbarkeit in einem Bild zu einer Einheit zu überführen. Kunst lässt das Unmögliche möglich erscheinen. Das künstlerische Ergebnis ist der Klang, eine Form künstlerischer Krisenlösung.

Das Unbekannte und Krisenhafte steht auch in dem Werk von Brigitte Sterz im Zentrum künstlerischer Forschung. Ästhetische Krisen werden hier über die systematische Kollision von Rationalität und Irrationalität provoziert. Der rationale, methodische Umgang mit Farbe und Form mündet gerade nicht in rationale Kälte und Lebensferne. Der künstlerische Verstand dient vielmehr als Werkzeug, den abstrakten Geist des Lebens sichtbar und erfahrbar zu machen. Der Betrachter wird zu den Quellen der Schöpfung mit ihren ungreifbaren Untiefen, Potentialen und eigenwilligen Zeichen geführt. Er gerät in unmittelbaren Kontakt zu den geistig-kosmischen Energien, kann sie in sich aufnehmen und eigenschöpferisch tätig werden.

Christina Bronisch untersucht die Frage nach der Wahrnehmung bzw. Wahrnehmbarkeit von Realität. Sie provoziert mit ihrem Konzept und ihren künstlerischen Arbeiten eine wahrnehmungsphilosophische Debatte über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Realität zu erfassen und den Wahrheitsgehalt von Wahrnehmungen überhaupt zu beurteilen. Letztlich resultieren für sie Missverständnisse oder gar Kriege aus den unverstandenen Mechanismen unseres Gehirns und der fehlenden Reflexion über diese. Ihre Arbeiten evozieren aus diesem Forschungsansinnen heraus Unstimmigkeiten in der Interpretation und Zuordnung von ästhetischen Konstellationen in unterschiedlichen Kontexten von Farbe und Komposition in den unterschiedlichsten Variationen.

Die Baumbilder von Delaram Homayouni kreisen um das existentielle Problem von Verwurzelung und Freiheit. Delaram Homayouni erforscht anhand des Elementes Baum die mythologischen Erkenntnisstrukturen des zeitgenössischen Menschen. Vor allem jedoch löst sie sich von einem einseitigen realistischen Motiv und dringt in die Welt der klangvollen Rhythmen künstlerischer Natur vor, durch die es dem Betrachter möglich wird, seine Einbindung in einen übergeordneten natürlichen und naturgesetzlichen Zusammenhang zu erfahren. Die musikalischen Strukturen der Natur werden in bildhafte Klänge übersetzt und entfalten ihre eindringliche ästhetische Wirkung.

Die Holzschnitte von Edith Naumann sind in vielen Arbeitsphasen mit bis zu 6 Druckstöcken realisiert worden, was zu faszinierenden Wirkungen der Überlagerung, der flächenräumlichen Illusionierung führt und den Betrachter in ein Panoptikum von tanzenden Kreisformationen einlädt, um sich dem Spiel von Formen und abgestuften Farbgebungen voll und ganz hingeben zu können. Die Eindeutigkeit des Kreises trifft hier auf die Uneindeutigkeit seiner räumlichen Verortung und regt den Betrachter zum Überdenken seiner begrenzten Wahrnehmungskapazitäten an.

Die Installation des Interieurs von Mechthild Woestmann mit dem Titel “Little Boys”, angelehnt an die auf Hiroshima abgeworfene Atombombe mit dem euphemistischen Namen “Little Boy”, präsentiert uns den künstlerisch verdichteten Einblick in die Verfasstheit unserer heutigen verkommenen Welt aus Indifferenz, Ignoranz, Doppelmoral, Ausbeutung, Schändung unserer Lebensressource Erde, Kriegslüsternheit, geheimen, machtpolitischen Absprachen jenseits demokratischer Kontrolle und dem einseitigen, seinerseits kriegsbegeisterten medialen Meinungsmanagement, durch das wir das sehen und glauben sollen, was die selbsternannten Eliten in ihrer Macht stärkt.

So können wir die gesamte Ausstellung als eine geballte Form künstlerischer Gegenkraft zu einem verkommenen Mainstream verstehen, der sich immer mehr von den Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens entfernt hat. Alle 7 Künstlerinnen liefern Ihnen in 7 unterschiedlichen Facetten die Energien zu geistigen Transformationen, die nötig sind, um aufzuwachen, aus dem Mainstream der Belanglosigkeit und Würdelosigkeit auszusteigen und die eigene Kreativität in neue, ungeahnte Bahnen zu lenken, denn es könnte alles anders sein. Wer uns Alternativlosigkeit einimpfen möchte, der predigt den geistigen, emotionalen, seelischen Stillstand, der will uns unterhalten, im wahrsten Sinne unten-halten. Solange wir uns unter(n)halten lassen, sind wir auf dem besten Wege, uns selbst abzuschaffen.

Was also können wir von den 7 Künstlerinnen mitnehmen?
• Gesilla Tietze liefert uns Anmut, Phantasie, die Irrationalitäten und Kuriositäten des Träumens als Quelle der Neuschöpfung
• Agnès Bucaille-Euler zeigt uns die Welt in ihrer ungreifbaren Transformation, sie zeigt uns Wege und Methoden der Selbstfindung, der Weisheit
• Brigitte Sterz eröffnet uns den rationalen Zugang zum Irrationalen, zu der Möglichkeit, den kosmischen Zusammenhang mit neuen Zeichen zu beschreiben
• Christina Bronisch lässt uns den grundlegenden Zweifel an unserer Wahrnehmungsfähigkeit würdigen und wertschätzen
• Delaram Homayouni offenbart uns das symbiotische Potential von Natur, unsere Einbindung in einen größeren, lebendigen, musikalischen Zusammenhang
• Edith Naumann erinnert uns an unsere Begeisterung für das freie, kreative Spiel
• und Mechthild Woestmann führt uns auf den Boden der Tatsachen, entlarvt das gemeine Spiel der Mächte und appelliert an unsere Vernunft, wieder zu echten Menschen zu werden, die sich selbst, ihre Mitmenschen, die Natur pfleglich behandeln.

Klangstrukturen sind ein Appell an alle Menschen, aufzuwachen und aufzustehen.

Alle 7 Künstlerinnen studieren und lehren an der Wiesbadener Freien Kunstschule, die im Übrigen in diesem Jahr ihr 50. Jubiläum feiert. Ich bin so frei, diese Ausstellung auch als einen Bestandteil unserer Jubiläumsfeier zu verstehen. Ich danke den 7 Künstlerinnen für ihr langjähriges, intensives und mit Herzblut begleitetes Engagement in, mit und für die Wiesbadener Freie Kunstschule. Eine anspruchsvolle Lehre lebt und gedeiht immer nur in Zusammenarbeit mit Ihnen allen! Vielen Dank dafür!

Ich wünsche Ihnen allen einen gelungenen, klangvollen Abend!

M. Becker / Schulleitung wfk

Klangstrukturen / Burg Kronberg 2022

 

 

 

 

Wolfgang Becker